Qualzucht und Missstände in der Rassehundezucht

Qualzucht und Missstände in der Rassehundezucht

Unser Gastautor Christoph Jung, Diplom-Psychologe und Publizist zahlreicher Bücher, schreibt hier über die Missstände in der Rassehundezucht.
Qualzucht (Foto zur Verfügung gestellt von Christoph Jung)
Qualzucht (Foto zur Verfügung gestellt von Christoph Jung)

Ein Gastbeitrag von Dipl.-Psych. Christoph Jung

Unser Gastautor Christoph Jung, Diplom-Psychologe und Publizist zahlreicher Bücher, schreibt hier über die Missstände in der Rassehundezucht. Er berichtet von wissentlichen Züchtungen von Hunden mit Erbkrankheiten, chronischer Inzucht, Gigantismus oder Zwergenwuchs. Er beschuldigt Zuchtverbände der „organisierten Tierquälerei“, und prangert Staat, Öffentlichkeit, Industrie und Tierärzte an, wegzusehen und von diesen Missständen zu profitieren. Jung kämpft dafür, dass der gesunde Hund endlich eine Lobby bekommt. 

Irgendwann Mitte der 90er Jahre war es soweit. Endlich konnte ich meinen großen Kindheitstraum realisieren: ein englischer Bulldog. Es wurde Willi, ein Welpe aus FCI-Championzucht (Fédération Cynologique Internationale). Ich hatte mich lange darauf vorbereitet, Bücher studiert, Kontakte zu Züchtern aufgenommen. Aus heutiger Sicht ist klar, damals stammten alle Informationen zu einer Hunderasse von Seiten der Züchter: Da war der Bulldog gesund. Willi begeisterte mich zeitlebens mit seinem Charakter, doch gesund war er nie.

Die Zeit mit ihm war immer eine Zeit der Sorge, des Bangens um seine Gesundheit. Der Besuch beim Tierarzt wurde Routine wie der Gang zum Frisör. Da hab ich Pech gehabt, war mein erster Gedanke. Doch je mehr ich mich umsah, desto mehr wurde klar, Willi war kein Einzelfall.

Je mehr Schicksale ich kennenlernte, umso gesunder wurde Willi. Aber leider nur relativ. Das war der Beginn meines Engagements für eine Wende in der Hundezucht. Mit www.Bulldogge.de stellte ich eines der ersten Hundeportale ins Netz.

Informationen über Zuchtrisiken werden ignoriert – auf Kosten der Lebenserwartung

Heute kann sich jeder mit ein paar Klicks informieren. Selbst wer nur kurz reinschaut erfährt, wie es um die Gesundheit von Mops, Bully & Co. bestellt ist. Man muss schon aktiv wegschauen, um nicht von schweren Atemproblemen, juckenden Falten, glubschigen Augen oder Keilwirbeln Kenntnis zu nehmen. Warnungen vor Hundehändlern sind unübersehbar.

Trotzdem erleben die brachyzephalen Hunderassen in den letzten Jahren einen Boom. Und mit ihnen auch die Kliniken wie die von Professor Gerhard Oechtering. Er versteht das Atemsystem der Hunde wie kaum ein anderer. Er nutzt seine Expertise, um den armen Kreaturen das freie Atmen zu ermöglichen; es zumindest zu versuchen, denn der Erfolg ist letztlich ungewiss. Wir sehen lebenslange Atemnot, hyperthermische Schocks und Kollabieren – schon bei geringen Belastungen, und das regelmäßig und massenhaft.

Die Lebenserwartung eines Bulldogs liegt bei fünf bis sechs, eines französischen Bullys bei neun Jahren; so Daten des britischen Kennel Clubs. Die Missstände in der Zucht nehmen den Hunden locker fünf Jahre ihrer Lebenserwartung.

Jeder zweite Dobermann erkrankt an einer meist schweren, aber vermeidbaren Erbkrankheit

Mitten in Deutschland praktiziert der weltweit führende Dobermann-Verein. Er züchtet seit Jahren wissentlich mit einer erblich bedingten, meist tödlichen Herzkrankheit, der Dilatativen Kardiomyopathie. Dabei sitzen einen Steinwurf vom Vereinssitz entfernt international führende Kardiologen auf diesem Gebiet.

Das Team um PD Dr. Gerhard Wess von der Medizinischen Kleintierklinik der LMU-München hat in umfangreichen Studien nachgewiesen, dass die Prävalenz der Kardiomyopathie beim Dobermann bei 58,7 Prozent liegt. Jeder zweite Dobermann entwickelt die Krankheit im Laufe des Lebens. Den Dobermann-Verein schert das nicht. Und er stellt in seiner Ignoranz keine Ausnahme dar.

Nach Schätzungen des Autors ist das Leid, das durch wissentliche Zucht mit Carriern schwerer Erbkrankheiten erzeugt wird, noch gravierender als die evidenten Leiden durch extreme Übertreibungen einzelner Merkmale, durch Gigantismus oder Zwergenwuchs.

Selbst bei Arbeitshunderassen wie dem Working Siberian Husky sehen wir die Optimierung auf kurze Sprints, die Gebäude wie Thermoregulation aus dem Ruder bringt. Hinzu kommt die chronische Inzucht in weiten Teilen der Rassehundezucht.

Das Tierschutzgesetz als totes Recht

Die Öffentlichkeit schweigt. Der Staat schaut weg. Nach Kenntnis des Autors gibt es keine Verurteilung eines Hundezüchters oder Zuchtvereins wegen dieser systemischen Missstände, die man als organisierte Tierquälerei bezeichnen kann, ja muss.

Hie und da werden Züchter auf Schadensersatz gegenüber einzelnen Käufern verurteilt, aber immer nur im Einzelfall. Die Zuchtvereine bleiben völlig unbehelligt, das Zuchtsystem wird aus der Verantwortung genommen. Dabei sind die Probleme spätestens seit 1999 in Berlin aktenkundig.

Im von der Bundesregierung beauftragten „Gutachten zur Auslegung von § 11b des Tierschutzgesetzes“, kurz Qualzuchtgutachten, werden alle wesentlichen Missstände bereits benannt. Die Sachverständigengruppe um Tierarzt Prof. Dr. Wilhelm Wegner hatte ganze Arbeit geleistet. Aber sie wird bis heute in der züchterischen wie juristischen Praxis ignoriert. Eine Umsetzung dieses Gutachtens würde allerdings eine einschneidende Wende zugunsten des Wohls der Heimtiere bedeuten.

Gleichwohl wird man es heute mit der Fülle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse untermauern und erweitern müssen. So können wir mithilfe der Genetik immer häufiger Erbkrankheiten nachweisen und sogar konkrete Genorte identifizieren, die uns die Carrier eines solchen Defektes verraten.

Prof. Dr. Ottmar Distl vom Institut für Tierzucht der TiHo Hannover ist ein international anerkannter Pionier auf diesem Gebiet. Er hat bereits etliche für die Züchter praktikable Tests entwickelt, mit deren Hilfe die Zucht spezielle, in dem Genpool einer Hunderasse signifikant häufige Erbkrankheiten, die nicht selten schwerste Defekte verursachen, nach und nach verbannen könnte. Nach dem Tierschutzgesetz sollte es für die betreffenden Hunderassen obligatorisch sein, solche Tests zu verwenden.

Auch die Zuchtordnung des Verbandes für das deutsche Hundewesens (VDH) fordert in §4: „Sämtliche Zuchtmaßnahmen müssen zum Ziel haben, … erbliche Defekte durch geeignete Zuchtprogramme zu bekämpfen“. Leider gibt es genug Beispiele, die Zweifel aufkommen lassen, dass dieser Bestimmung des Dachverbandes immer auch die Praxis seiner Zuchtvereine folgt.

Jeder kann einen Zuchtverein gründen

Und selbst dann wären nur 30 Prozent des Welpenmarktes erfasst. In Deutschland ist das Zucht- und Handelsgeschehen rund um den Hund unreguliert. Es gibt lediglich Vorschriften für Zwingergrößen, Mindestalter im internationalen Welpenhandel oder die Maßgaben des Tierschutzgesetzes. Ansonsten kann jeder einen Hundezuchtverein gründen und nach seinem Gusto Hunde vermehren.

So gibt es in Deutschland alleine zwei Dutzend Verbände, die den Anspruch erheben, internationaler oder gar Welthundezuchtverband zu sein. Rechtlich ist das heute okay. Vieles, was man dort an Zuchtordnungen findet, ist seinen Namen nicht wert. Solche „Zuchtverbände“ kann man als Dienstleister für unseriöse Züchter ansprechen, um mit schmuckvollen Championaten und „Papieren“ die Welpenkäufer zu beeindrucken.

Eine Gurke wird strenger kontrolliert als die Hundezucht

Der EU mag man vieles vorwerfen können, mangelnden Regulierungseifer jedoch nicht. Bei der Hundezucht ist das anders. Während Form, Farbe und Größe eines Apfels oder einer Tomate in seitenlangen Pamphleten bis ins Detail reguliert sind, finden wir zur Hundezucht: Nichts.

Während der Weg einer Gurke vom Erzeuger bis ins Regal beim Discounter exakt dokumentiert sein muss, gibt es keinerlei staatliche Kontrollinstanz für Hundehandel und Hundezucht. Jeder Angler muss eine Prüfung abgelegt haben, um seinen Haken in einem deutschen Tümpel wässern zu dürfen. Für Hundezucht oder Gründung eines Hundezuchtverbandes bedarf es keinerlei Genehmigung oder gar des Nachweises der Fachkunde.

2011 bat mich der VDH, bei einer Reform der Zucht des Bulldogs mitzuwirken. Als es ernst wurde, verließen die allermeisten Züchter kurzerhand das Dach des VDHs und schlossen sich anderen Verbänden an. Es entwickelte sich ein reger Handel mit Papieren ausländischer FCI-Verbände, etwa aus Griechenland oder Ungarn, denen sich die Züchter pro Forma anschlossen.

Aus der Not hatten sie eine Tugend gemacht. Als Mitglied eines fernen FCI-Verbandes hatten sie weiter das Recht, ihre Hunde auf den Ausstellungen des VDHs in den Ring zu stellen. Zugleich hatten sie sich noch der letzten vereinsinternen Kontrolle entledigt. Heute gibt es unter dem Dach des VDHs gerade noch eine Handvoll Bulldog-Züchter. Auf den Ausstellungen sieht man die alten Akteure weiterhin, wie auch die international agierenden Ringrichter.

Championate erhalten weiterhin Hunde, die extreme Deformierungen vorweisen, etwa schwere Nasenfalten. Solche Nasenfalten wurden 2010 vom Standard führenden Kennel Club aus Tierschutzgründen verboten. Der Standard des Bulldogs bestimmt: „Schwere Nasenfalten sind unerwünscht und sollten schwer bestraft werden“. Das schert die Züchter, Ausstellungsrichter, die Verbände, die deutschen Behörden und offensichtlich auch die Welpenkäufer nicht im Geringsten.

EU-Heimtierzuchtgesetz nötig

Per Reformen in einzelnen Verbänden wird eine Wende in der Hundezucht kaum durchsetzbar sein. Ein Großteil der Züchter würde zu Verbänden mit schlichteren Standards wechseln. Käufer gibt es für billigere Welpen immer. Beim Geld hat der Tierschutzanspruch vieler Hundehalter einen Blackout.

Wahrscheinlich würde der EU-weite Hundehandel ausgeweitet, der bereits heute etwa die Hälfte des Marktes bedient. Es bedarf daher einer gesetzlichen Festlegung der Mindeststandards in der Zucht, samt praktikabler Bestimmungen zu deren strafbewehrten Durchsetzung, ein EU-weites Heimtierzuchtgesetz.

Der Markt steht gegen das Wohl der Hunde

Warum wird es nicht gemacht, obwohl Vorschläge für ein solches Gesetz seit Jahren auf dem Tisch liegen? Es gibt überaus mächtige Interessengruppen dagegen. Die Agrar- und Nahrungsmittellobby, zu deren Töchter die führenden Heimtierfutter-Marken zählen, hat kein Interesse an einer verschärften Tierschutz-Gesetzgebung, jedoch großen Einfluss in Brüssel und Berlin.

Das System der industriellen Fleischproduktion soll nicht angetastet werden. Zudem könnte der Bestand an Hunden zurückgehen, wenn die Zucht anspruchsvoller und damit die Anschaffungskosten höher würden. Für die Petfood-Töchter würde der Markt kleiner. Das würde auch die Kleintier-Veterinäre und die Vetpharmabranche treffen. Auch sie profitieren rein ökonomisch gesehen an diesem unregulierten Markt zulasten der Hunde. Etliche Kleintierpraxen oder Kliniken wären in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet.

Bereits 2009 hatte ich in „Schwarzbuch Hund“ herausgearbeitet, dass der gesunde Hund keine Lobby hat. Alle Anbieter im Fünf-Milliarden-Hundemarkt profitieren an unserem kranken Begleiter. Der Hund ist unser bester Freund. Heute ist wissenschaftlich belegt, dass er unserer Psyche und Gesundheit gut tut. Seit der Steinzeit ist er Teil unserer Evolution und vielleicht auch ein stückweit Teil unserer Identität. Er hat es verdient, dass wir für ihn sorgen, eben wie für einen besten Freund.

Weitere Informationen

Autor: Dipl.-Psych. Christoph Jung
Datum der letzten Aktualisierung: November 2021
Quelle: http://www.christoph-jung.com/person.htm